Die Geisteswissenschaften werden in Deutschland deutlich unterbewertet. In einer Zeit, die unter dem erheblichen Einfluss einer atemberaubenden Digitalisierung steht, in der die Zahl psychischer Erkrankungen in den letzten 10 Jahren massiv angestiegen ist, in der ernste psychiatrische Krankheiten einen Wahnsinnsaufschwung erfahren, in der die Kliniken voll sind von immer jünger werdenden Patienten, die in der Welt da draußen nicht mehr zurechtkommen.[1] [2] [3]
Seit vielen Jahren wachsen wir heran in dem Glauben, dass alles, was messbar und belegbar ist, gut und richtig und zweckdienlich ist. Deutschland ist ein Land, das auf der Basis von Zahlen und genauer Planung funktioniert. Auch die Intelligenz lässt sich messen. Demnach ist Intelligenz das, was ein Intelligenztest misst. Wirklich? Der Begriff leitet sich aus dem Lateinischen ab. „Intellegere“ bedeutet so viel wie „innewerden, verstehen, erkennen“ sowie wörtlich „dazwischen wählen“, deswegen auch „inter legere“ = „eine überlegte Wahl treffen”.
Ist diese Definition deckungsgleich mit dem heutigen Intelligenzverständnis strikter, linearer Logik? Geht es nicht vielmehr darum, Verbindungen zwischen verschiedenen Bereichen und Phänomen herzustellen und daraus eine Lösung abzuleiten? Zu erkennen, wie einzelne Elemente, die auf den ersten Blick nichts miteinander zu tun haben, sich gegenseitig befeuern und verstärken? Diese relationelle Fähigkeit macht komplexes und abstraktes Denken erforderlich. Und das beherrschen Geisteswissenschaftler*innen aus dem Effeff.
Freies Denken versus Wissensspeicher
Die einst hehren Bildungsanstalten, die Universitäten, die dem Humboldt’schen Bildungsideal – der Mensch sollte sich durch Wissenschaft jenseits aller Nützlichkeitserwägung bilden – folgten, sind heute zu verschulten Ausbildungsstätten verkommen. Und somit fernab des ursprünglichen Ziels, den Geist der Studenten zu bilden und sie zu kritischem, mehrdimensionalen Denken anzuregen. Der Auftrag des Hochschulwesens hat sich gewandelt: Es geht nicht um freies Denken, sondern um die stringente Vermittlung möglichst viel Fachstoffs, ohne überflüssigen Denkballast, um so die Studierenden auf den von ihnen anvisierten Beruf vorzubereiten. Die Europäisierung der Studiengänge mit den vergleichbaren Bachelor- und Masterabschlüssen hat ihr Übriges dazu beigetragen, möglichst flott und zielgerichtet zu studieren. Bloß nicht zu viel nachdenken und in Frage stellen, sondern schön den Stoff reinknallen, für Prüfungen absondern, fertig. Das vielzitierte Bulimie-Lernen. Was hängenbleibt, ist fraglich.
Okay, ich gebe zu: Ich bin nicht mehr jung, sondern stehe in der Blüte meines Lebens. Ich bin 53. Und ich habe etwas Geisteswissenschaftliches studiert. Französisch, Englisch, Italienisch und Jura im Nebenfach.
Deutschland als Land der Dichterinnen und Denkerinnen
Aber im Ernst: Die Zeit für ein Revival, eine Renaissance der geistigen Fächer ist mehr als reif. Will sich Deutschland denn wirklich weiterhin als eine Nation definieren, die sich in erster Linie als Wirtschaftsmacht hervortut? Deren größte Tugend darin besteht, Exportweltmeisterin zu sein? Und deren Ur-Einwohner*innen im Ruf stehen, sich in erster Linie durch Vorsichtigkeit und Planung auszeichnen? Wollen wir wirklich so sein und auch so von den Ländern dieser Welt gesehen werden?
Dabei galt Deutschland unseren französischen Nachbarn als Land der Dichter und Denker. Geprägt von literarischen Größen wie Goethe und Schiller. Dieses schöne Bild unseres Landes wurde vor 200 Jahren gezeichnet und international verbreitet. 1813 erschien das französische Buch „De l’Allemagne“ – Über Deutschland. Es prägte das Bild der Deutschen für viele Jahrzehnte und wirkt bis heute nach. Die Verfasserin war eine Französin, Germaine de Stael. Die Baronin unternahm von 1803 bis 1804 und von 1807 bis 1808 zwei ausgedehnte Deutschlandreisen, sie traf Goethe und Schiller. Ihre Reiseeindrücke verarbeitete sie in besagtem Buch. Deutschland galt ihr als friedliebend und freier Gedanken mächtig, Frankreich als militaristisch, unterdrückt von Napoleon.
Frankreich ist die Republik des Geistes
Seit vielen Jahrzehnten hat sich dieses Bild allerdings umgekehrt: Frankreich hat Deutschland als Republik des Geistes längst den Rang abgelaufen. In Frankreich dürften Intellektuelle eine größere Rolle als in allen anderen westlichen Demokratien spielen. Und man schenkt ihnen Gehör. Talkshows und Journale mit hohem intellektuellen Anspruch sind bei unseren Nachbarn sehr beliebt. Die Linke konnte nach dem Zweiten Weltkrieg die große Mehrheit der Intelligenz für sich gewinnen und hat einige von ihnen mit wichtigen politischen Führungsaufgaben betraut. Heute noch mischen Starliteraten wie Michel Houllebecq, Journalisten wie Bernard Henri Lévy oder Philosohoph*innen wie Elisabeth Badinter das politische Geschehen auf.
Immerhin: Auch wir haben unseren Salon-Philosophen. Gott sei Dank! Richard David Precht ist ein gern gesehener Gast in deutschen Talkshows. Dabei ist er nicht nur gut anzuschauen, wie er da so sitzt und seine Gedanken zum Besten gibt. Er ist darüber hinaus auch noch gut zu verstehen. Precht ist für Deutschland eine wichtige Instanz, was die Zukunft von Arbeitsethik und Umweltbewusstsein betrifft, und den damit zusammenhängenden Wandel, den wir oder unsere Nachfahren in den nächsten Jahren erleben werden. Ein Hoch also auf Precht und die vom ihm hochgeschätzte Kollegin Svenja Flaßpöhler.
Grenzaufweichung zwischen natur- und geisteswissenschaftlichen Disziplinen
Es ist wichtig, dass wir lernen, auch jenseits fachlicher Grenzen zu denken. Naturwissenschaftlerinnen, Informatikerinnen und Geisteswissenschaftlerinnen müssen sich annähern, einander zuhören und verstehen lernen. Neben der technischen Expertise brauchen wir eine hohe Sensibilität dafür, welche positiven oder auch negativen Auswirkungen Technologien wie die Künstliche Intelligenz auf unseren Alltag haben können. Es ist der Kern unserer modernen Wissenschaft, dass sie auf Arbeitsteilung setzt. Ohne die Spezialisierung der Arbeitskraft wäre die globalisierte Ökonomie kaum denkbar. Der hochdifferenzierte Arbeitsmarkt speist sich aus vielen, spezialisierten Studien-und Ausbildungswegen, die häufig kaum noch aufeinander Bezug nehmen. Genauso wenig wie angehende Sozialwissenschaftlerinnen während ihres Studiums mit technischen Systemen in Berührung kommen, beschäftigen sich Studierende der MINT-Fächer mit ethischen oder gesamtgesellschaftlichen Fragestellungen. Gemeinsame Kolloquien, Veranstaltungen oder Debatten von technischen und geisteswissenschaftlichen Fächern auf dem Campus? Studium Generale im ursprünglichen Sinne? Fehlanzeige.
Wir brauchen eine Renaissance der Geisteswissenschaften!
Darum: Was wir brauchen, ist eine Renaissance der Geisteswissenschaften.[4] Die binäre Logik der digitalen Welt hilft uns nicht weiter, wenn es darum geht, ein grundlegendes Verständnis für die Komplexität gesellschaftlicher Prozesse zu entwickeln. Ein Anfang wären Wahlpflichtfächer für angehende Informatikerinnen in geisteswissenschaftlichen Fächern, schon im grundständigen Teil des Studiums. Auch Geisteswissenschaftlerinnen tun gut daran, zu verstehen, was genau es mit Virtual Reality und Algorithmen auf sich hat und wie sie unser Handeln täglich beeinflussen. Pionierarbeit leistet schon einmal die Universität Göttingen. Im Februar 2019 wurde das Institut Digital Humanities (deutsch: „Digitale Geisteswissenschaften“) eingeweiht. Dort widmet man sich der Erforschung geisteswissenschaftlicher Fragestellungen mit digitalen Methoden. In Abgrenzung zu den traditionellen Geisteswissenschaften verstehen sich die Digital Humanities als ein methodenorientiertes Fach, in dem die Evaluation und Weiterentwicklung von computerbasierten Verfahren im Vordergrund stehen. Und denkt man das Ganze zu Ende, stellt sich die Frage, wie sinnvoll starre Grenzen zwischen den Fachgebieten Zeitalter multidisziplinärer Teams und sich ständig wandelnder Jobprofile überhaupt noch sind. Sollten wir nicht lieber im besten Sinne systemisch denken?
Neuordnung der Studiengänge
Die Restrukturierung der Studiengänge mag uns langsamer machen. In einer kapitalistischen und hochvernetzten Welt, in der wir es gewohnt sind, alles gut zu finden, was effizient ist und schnelle Lösungen bringt, mag das Langsame, das Uneindeutige nicht erwünscht sein. Aber genau das müssen wir aushalten, wenn wir wollen, dass unsere getriebene Gesellschaft, die voll ist mit Menschen, die das Tempo nicht mehr gehen können, an der Geschwindigkeit und der Reizüberflutung erkranken, wieder peu à peu gesundet. Und um den kommenden Generationen die Zeit zu geben, die richtigen Entscheidungen für die zukünftige Gestaltung unserer Welt zu treffen. Vielleicht machen uns solche Reflexionen auch robuster gegen Krisen, die wir in uns selbst, in unserem Land und in der Welt erleben.
Schon Sokrates setzte auf ein stetiges, bohrendes Bemühen, den Dingen auf den Grund zu gehen und sich nicht mit vordergründig Augenscheinlichem zufriedenzugeben. Für den Erkenntnisgewinn setzte er auf den Dialog. Zu seinen Erkenntnissen gehörte, dass richtiges Handeln aus der richtigen Einsicht folgt und dass Gerechtigkeit Grundbedingung für einen guten Zustand der Seele ist… Auch wir sollten uns gegenseitig öfter fragen, was gerade eigentlich passiert und jungen Menschen dieses kritische Bewusstsein frühzeitig mit auf ihren Weg geben.
© Claudia Dolle, September 2019.
[1]https://de.statista.com/statistik/daten/studie/252963/umfrage/anzahl-stationaerer-behandlungen-aufgrund-psychischer-und-verhaltensstoerungen/
[2]https://www.dgppn.de/_Resources/Persistent/154e18a8cebe41667ae22665162be21ad726e8b8/Factsheet_Psychiatrie.pdf
[3]https://www.spiegel.de/karriere/psychische-erkrankungen-immer-mehr-menschen-berufsunfaehig-a-1264152.html
[4] Seit April 2019 koordiniert die Universität Göttingen außerdem ein europäisches Forschungsteam, das für die UNESCO den europäischen Teil des World Humanities Report (WHR) erstellt. Der WHR liefert Erkenntnisse über die derzeitigen Entwicklungen in den Geisteswissenschaften und bildet die Grundlage für künftige Empfehlungen der UNESCO.