Das Kunstatelier auf dem Eichberg als Ort der Begegnung
Die Tür steht weit offen. Herzlich und mit gebührendem Abstand begrüßt Helmut Mair seine Gäste. Die offene Tür ist mehr als ein Willkommensgruß. Sie ist ein Symbol für die Offenheit der Künstlerwerkstatt. Das Atelier von Helmut Mair ist ein Ort der Begegnung, der Toleranz und der Bewegung. Menschen, die von den Stationen des Vitos Klinikums Rheingau kommen, erfahren hier Entlastung. Das Atelier wird aber auch von Patienten, die längst entlassen wurden, und Kunstinteressierten aus der Umgebung genutzt.
Frage: Herr Mair, welchen Menschen steht das Künstleratelier zur Verfügung? Und wozu?
Helmut Mair: Das Atelier liegt auf dem Gelände einer psychiatrischen Klinik. Diese Lage ist etwas Besonderes. Und, was noch wichtiger ist, hier können alle künstlerisch arbeiten, ob Patienten, ehemalige Klienten oder einfach Kunstinteressierte aus der Umgebung.
Unter normalen Umständen hält sich das Verhältnis zwischen Klienten und Besuchern von außen die Waage. Patienten und psychiatrieerfahrene Menschen erleben hier Entlastung. Sie können ihre Krankheit aus einem anderen Blickwinkel – jenseits von therapeutischen Interessen – betrachten. Wir machen hier ein anderes Feld für sie auf. Das Atelier ist ein Ort der Begegnung und ein Ort der Bewegung.
Das sind sehr unterschiedliche Gruppen. Wie gestaltet sich das Miteinander im Atelier?
Mair: Gerade die Unterschiedlichkeit dieser Menschen machen den Charakter des Ateliers aus! Akut oder chronisch erkrankte Menschen und Menschen ohne besondere psychische Belastungen können voneinander lernen und profitieren. Hier lernen sie nicht nur, dass es Nachsicht und Toleranz im Umgang miteinander braucht. Es entsteht eine Gemeinschaft, in der man sich kennt. Hier finden Begegnungen statt, die ohne diesen Ort weniger wahrscheinlich wären. Das ist bereichernd. In einem solchen Klima kann Kunst gedeihen.
Ist die Kunst Bestandteil des therapeutischen Konzepts?
Mair: Ja und nein. Der Fokus liegt auf der Kunst. Ich bin Künstler, kein Therapeut. Die Therapie steht nicht im Vordergrund. Wenn überhaupt, ist sie im Atelier eher unsichtbar vorhanden. Ich hole noch ein bisschen aus: Im Unterschied zur Kunsttherapie, die Bestandteil des Therapie- und Behandlungsplans eines Patienten ist, haben wir im Künstleratelier keinen Stundenplan. Die Leute kommen hierher, wenn sie wollen und wann sie wollen.
Im Künstleratelier geht es um kreatives Handeln, nicht um das Erreichen einer bestimmten Aufgabe. Das erleichtert den Zugang zu den eigenen Emotionen, zur Selbstdarstellung und es fördert die Selbstentfaltung. Die symbolische Darstellung mit Materialien bietet indirekte, und damit oft weniger bedrohliche, Ausdrucksmöglichkeiten von bewusstem oder unbewusstem seelischem Erleben. Gleichzeitig kann man innere Seelenzustände durch die Kunst externalisieren. Das heißt, man kann ein Stück weit Abstand gewinnen, von dem was einen quält.
Wichtig ist der offene Raum, in dem die Patienten und Klienten Aufmerksamkeit und ernsthaftem Interesse begegnen. Hier sind auch längere Gespräche möglich. Natürlich gibt es auch Menschen, die zum künstlerischen Gestalten Ruhe brauchen, die sich von den anderen nicht ablenken lassen wollen. Auch das ist möglich, wir haben ausreichend Platz.
Das Schöne ist: Wer hierher kommt, braucht keine besondere Eignung. Manche der Kunstschaffenden sind aber richtig begabt, ohne sich dessen bewusst gewesen zu sein. Und diese Begabung fördere ich gerne.
Malen und werkeln die Menschen einfach vor sich hin oder erhalten sie auch Anleitung?
Mair: Das ist sehr individuell. Die einen kommen mit konkreten Vorstellungen. Andere wünschen sich Anleitungen und Anregungen. Die gebe ich ihnen gerne. Wir haben auch eine große Bibliothek, in der sie stöbern können. Manche sitzen erst einmal nur da. Viele Wege führen zur Kunst!
Können Sie Beispiele nennen, wie eine Anleitung aussehen könnte?
Mair: Ja. Gerne bitte ich neue Gäste mit geschlossenen Augen eine Geschichte zu zeichnen, die ich oder auch jemand anderes vorträgt. Dafür befestigen wir kleine Karten auf den Tischen, damit sie nicht wegrutschen. Eine solche Geschichte könnte zum Beispiel von einer Linie handeln, die schrumpft, sich wieder verlängert und in den Garten hinausgehen möchte. Anschließend betrachten wir gemeinsam die Karten unter gestalterischen Gesichtspunkten.
Oder ich lasse in Diaglasrahmen Schmutz sammeln. Wenn wir die Dias dann mit einem Projektor an die Wand werfen, entstehen überraschend dekorative Bilder. Normalerweise verbindet man mit Schmutz ja etwas Hässliches. Die Übung zeigt, dass Schmutz auch etwas Schönes sein kann. Das gilt besonders für Pflanzliches oder zum Beispiel für Spinnweben.
Wie wissen Ihre Schüler, welche Technik für sie die passende ist?
Mair: Zunächst betrachte ich die Nutzer des Ateliers nicht als Schüler, einige wohl eher als Mitarbeiter.
Für welche Technik sich jemand entscheidet, hängt stark vom Temperament ab. Wenn eine Person sehr dynamisch ist, gerne und viel redet und allgemein sehr lebhaft ist, wird sie sich vermutlich für große Formate entscheiden. Für „Uhrwerker“ dagegen eignen sich eher Techniken, bei denen es auf Feinheit und Details ankommt.
Manchmal lohnt es sich auch, die Technik zu wechseln. Letzten Endes ist das künstlerische Schaffen eine Suche auf dem Weg zur Selbst-Herstellung. Man versucht herauszufinden, wo man steckt und was man selbst mitbringt. Auf dieser Suche vergisst man die Zeit und ist ganz bei sich.
Kann sich der Stil während dieser Suche verändern?
Mair: Absolut! Wenn sich Menschen im Verlauf ihrer Erkrankung (und Genesung) emotional verändern, hat das Einfluss auf ihren Ausdruck. Wir haben einige Beispiele in unserer Sammlung, die deutlich machen, wie sehr sich Arbeiten einer Person thematisch und stilistisch unterscheiden können. Etwa in einer manischen und einer depressiven Phase.
Es lassen sich also Rückschlüsse aus den Bildern auf den Seelenzustand schließen?
Mair: Oh, da bin ich vorsichtig. Bilder können, wie jede Äußerung, auch diagnostische Hinweise geben. Wenn man die Entstehungssituation und die Biografie einer Person allerdings nicht kennt, sollte man keine psychischen oder gar psychopathologischen Rückschlüsse aus Bildern ziehen. Bilder sind aber immer ein guter Anlass, Fragen zu stellen und ins Gespräch zu kommen.
Arbeiten Sie auch mit Gastkünstlern zusammen?
Mair: Seit vielen Jahren haben wir die Möglichkeit, für einen bestimmten Zeitraum Gastkünstler zu engagieren. Wir konnten hierfür in den letzten Jahren sehr erfolgreiche Kunstschaffende aus Wiesbaden und dem Rhein-Main-Gebiet gewinnen.
Der erste war der Klangkünstler Axel Schweppe, der 2010 bei uns war. Jeder bringt, auf der Basis seines künstlerischen Werdegangs, eigene Erfahrungen, Sichtweisen und Themen ein. So entstand mit dem Schauspieler und Regisseur Matis Hönig ein Theaterprojekt. Das dazu erarbeitete Bühnenbild, ein Tableau aus ca. 400 Tiefdrucken, fand im Anschluss seinen Weg bis zu einer Ausstellung ins Schweizerische Psychiatrie-Museum Bern. In diesem Jahr haben wir mit einem neuen Wochenendangebot, insbesondere für die Klientel der Psychosomatik und der Psychotherapiestationen, begonnen.
Dem Atelier verbundenen Kunstschaffende bieten samstags Kurse für Klienten an.
Noch im Februar und Anfang März bot Sofi Zezmer einen Kurs zur Porträtmalerei und „kleine Konferenzen“ zum Thema Glück an. Unter Anleitung konnten die Menschen sich oder die Künstlerin porträtieren, oder sich auch von anderen porträtieren lassen. Um Hemmungen abzubauen, arbeitete sie zunächst mit ihren „Wort-Porträts“. Dafür sollten sich die Anwesenden ein für sie wichtiges Wort aussuchen und jeden einzelnen Buchstaben dieses Wortes mit weiteren Worten verknüpfen. Nehmen wir mal das Wort Liebe. Was fällt uns zum Buchstaben L ein? Leichtigkeit, Lust, Luft zum Beispiel. Auf diese Weise entstehen schöne Denkanstöße, die später in die Porträts einfließen können.
Welche Techniken sind im Atelier möglich?
Mair: Unser Atelier ist mehr als nur ein Entstehungsort von Gemälden, Zeichnungen oder Skulpturen. So haben wir als weitere Möglichkeit eine Druckwerkstatt, die das Arbeiten im Tiefdruckverfahren ermöglicht. Die Kunst wurde aber auch schon in den Garten gesät oder wirkte in der Momenthaftigkeit eines darstellenden Spiels. In unserem Musikproberaum hat einer unserer Klienten gemeinsam mit einem Musiker erst kürzlich eine Platte aufgenommen. Wir haben einen Stop-Motion-Film gedreht und ein Theaterprojekt auf die Bühne gebracht. Viele dieser unterschiedlichen Projekte entstanden durch Anregungen von außen. Und ich hoffe auf weitere Projekte und Kooperationen.
Im Mai haben wir gemeinsam mit anderen integrativen Ateliers die Teilnahme an einer Ausstellung in der Galerie Outsider Art in Wiesbaden geplant. Darüber hinaus sollte es im Rahmenprogramm wechselseitige Atelierbesuche und gemeinsame Exkursionen geben. Leider wird dies vermutlich wegen des Coronavirus nicht stattfinden können. Das bedaure ich sehr.
Eine letzte Frage zum Coronavirus: Wie wirkt sich die aktuelle Lage auf das Geschehen hier im Atelier aus?
Mair: Die aktuelle Situation konterkariert das Anliegen unseres Ateliers. Zum Schutz der Patienten mussten wir das Atelier zunächst für Gäste von außerhalb schließen. Aktuell steht es nur den Klienten von Vitos Rheingau zur Verfügung, und das auch nur stationsweise und in Kleingruppen. Das Lebendige geht dadurch verloren. Freie Nachmittage können momentan nicht stattfinden. Das ist schade. Es ist ja gerade das Wesen des Ateliers, Menschen aus sehr unterschiedlichen Lebensbereichen und über Grenzen hinweg zusammenzuführen.
Generell achten wir auf die allgemeinen Regeln: Händewaschen und Abstandhalten. Das Atelier bietet ja genügend Raum. Jetzt, bei beginnendem schönen Wetter, können wir die Aktivitäten zudem in den Ateliergarten verlagern. Es ist aber nicht immer einfach, in der Interaktion die Abstandsregeln konsequent einzuhalten. Einmal haben wir Zollstöcke zwischen uns gehalten: die empfohlenen zwei Meter sind eine gewaltige Distanz.
Für gewisse Situationen haben wir aus Overheadfolien Schutzschirme gebastelt. So ist etwa ein Schachspiel nicht nur im Freien etwas unbefangener möglich.
Zur Person: Helmut Mair leitet das Künstlerhaus6 auf dem Gelände von Vitos Rheingau. Er ist Maler und hat bereits vor und neben seinem Kunststudium mit psychiatrieerfahrenen Kunstschaffenden gearbeitet. Bei Vitos Rheingau baute er neben dem offenen Atelier auch das Kulturzentrum Eichberg mit auf.